Ziel der Entwicklung

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Messprinzip der Stick-Slip-Prüfung

Als Hauptursache für die Entstehung der Störgeräusche im Automobil-Innenraum wird der so-genannte Stick-Slip-Effekt angesehen. Dieser Effekt, der auch als Ruck- oder Haftgleiteffekt beziehungsweise als Reibinstabilität bezeichnet wird, tritt bei gegeneinander bewegten Festkörpern auf, wenn die Haftreibung deutlich größer ist als die Gleitreibung. Die daraus resultierende Bewegung aus abwechselndem Haften und Gleiten kann Schwingungen anregen, die für das menschliche Ohr als Quietschen, Rattern oder Knarzen hörbar sind. Da der Stick-Slip-Effekt also ein Reibungsphänomen ist, wird er mit Hilfe von Reibungsprüfungen charakterisiert. Die in der Automobilindustrie am weitesten verbreitete Norm für Interieurmaterialien VDA 230-206 nutzt hierfür einen Stick-Slip-Prüfstand, mit welchem die cha-rakteristischen Abrisse beim Übergang vom Haften zum Gleiten quantifiziert werden. Als Ergebnis wird eine sogenannte Risikoprioritätszahl (RPZ) geliefert, die mit Werten von eins bis zehn eine ansteigende Neigung des Materials zu Stick-Slip und damit ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Knarzgeräuschen anzeigt. Die Norm ist gut etabliert und Bestandteil zahlreicher Spezifikationen für die Automobilzulieferer. Ein wesentlicher Nachteil der Norm besteht allerdings darin, dass nur der aktuelle oder tatsächliche Zustand einer Materialpaarung überprüft werden kann. Es sind damit keine Aussagen darüber möglich, wie sich die Materialien unter anderen Bedingungen oder in einem anderen Zustand verhalten werden. Es ist aber bekannt, dass die Reibung im Allgemeinen und der Stick-Slip-Effekt im Besonderen von einer Vielzahl an Bedingungen abhängig ist. Dazu zählen neben den vielfältigen Materialeigenschaften und den Belastungsbedingungen auch die Umgebungsbedingungen wie Temperatur und Feuchte. Durch die Temperatur ändern sich bei den im Interieur hauptsächlich verwendeten Materialien mit weicher Werkstoffcharakteristik die Deformationseigenschaften und damit auch die Kontaktsituation bei der Reibung. Durch Luftfeuchte können Materialien unterschiedlich aufquellen oder es kann sich ein verschiedenartig ausgebildeter Flüssigkeitsfilm auf der Materialoberfläche bilden. All das hat nachgewiesenermaßen Einfluss auf das Reibverhalten und bestimmt damit auch, ob Stick-Slip-Effekte bei einer Messung oder in der Realität auftreten oder nicht.

Vorteile und Lösungen

Ziel des Projektes war die Entwicklung einer Methode zur effektiven Prüfung des Stick-Slip-Verhaltens von Interieurmaterialien unter klimatischen Nichtgleichgewichtsbedingungen.
Diese Methode sollte realitätsnah, zuverlässig, standardisierbar und möglichst effizient sein, um auf Akzeptanz in der Automobilbranche zu stoßen, eine Vereinheitlichung von Prüfungen zu gewährleisten und einen Prüfungsdschungel zu verhindern. Eine allgemein akzeptierte Prüfmethode besitzt den Vorteil, dass die häufig kleinen und mittelständischen Zulieferer dadurch Kosten sparen und eine bessere Grundlage zur Optimierung ihrer Materialien oder Komponenten hinsichtlich der Störgeräuschproblematik erhalten. Daneben wird die Kommunikation sowie das Vertrauensverhältnis in der Zulieferkette gestärkt, die OEMs erhalten eine sicherere Bewertungsmöglichkeit und der Fahrkomfort sowie die Fahrsicherheit für die Kunden verbessert sich. Die angestrebte Realitätsnähe sollte durch die Ableitung klimatischer Prüfszenarien aus statistischen Erhebungen zum Fahrverhalten, Klimadaten und wissenschaftlichen Untersuchungen zum Klima im Fahrzeuginnenraum erfolgen. Auf diese Weise sollten bei der Prüfung realistische Klimaänderungsszenarien nachgestellt werden. Eine hohe Effizienz sollte durch eine kurze, möglichst automatisierbare Prüfung mit im Vergleich zum Stand der Technik niedrigen Kosten erreicht werden. Dazu sollte eine neue Methode zum Einsatz kommen, welche in einem vorangegangenen Projekt abgeleitet wurde und es möglich macht, das Stick-Slip-Verhalten einer Materialpaarung während einer Simulation der tatsächlichen Ruckelbewegung beim Fahren quasi gleichzeitig für viele verschiedene Belastungen auszuwerten. Die Prüfung sollte für möglichst viele unterschiedliche Interieurmaterialien genutzt werden können. Das sollte dadurch erreicht werden, dass für alle Interieurmaterialien gleichermaßen zutreffende, realistische Klimaszenarien abgebildet und nicht - wie derzeit üblich - für jede Materialklasse andere „kritische Bedingungen“ verwendet wurden. Die wesentliche Herausforderung des Projektes bestand darin, trotz der Nutzung des klimatischen Ungleichgewichtes eine reproduzierbare und definierte Prüfung zu entwickeln.

Zielgruppe und Zielmarkt

Primärer Zielmarkt der erarbeiteten Methodik ist die Automobilindustrie inklusive ihrer Zulieferer. Das Verfahren kommt vor allem der spezifischen Materialoptimierung und der Qualitätssicherung zugute und wird Zulieferern und Automobilherstellern gleichermaßen helfen, Kosten für Reklamationen und Gewährleistungen sowie Umsatzeinbußen durch Kundenabwanderung zu verringern. Schon jetzt haben Störgeräusche einen großen Anteil an den Reklamationsgründen im Automobilbereich. Verschiedene aktuelle Entwicklungen werden dieses Problem in den nächsten Jahren noch verstärken, z. B.:
Elektromobilität: Durch Verringerung der Motorgeräusche werden die Störgeräusche aus dem Interieur noch deutlicher wahrnehmbar.
Autonomes Fahren: Die Insassen sind weniger auf den Verkehr und das Fahren fokussiert und nehmen damit ihre direkte Umgebung bewusster wahr.
Leichtbau: Der Einsatz von Kunststoffen und polymeren Werkstoffen nimmt zu.
Digitalisierung / Individualisierung: Die Anzahl und Vielfalt verschiedener Materialkombinationen, die potentiell Störgeräusche erzeugen können, nimmt im Interieur zu. Für den Automobilbereich ist generell ein Trend zu höherwertiger Innenausstattung festzustellen. Komfort und Langlebigkeit sind deshalb wichtige Kauf- und Zufriedenheitskriterien. Lästige Störgeräusche beziehungsweise deren zu zeitiges Auftreten während der Nutzungsdauer des Fahrzeuges führen zu Reklamationen und Kundenunzufriedenheit. Die Reduzierung der Störgeräuschanfälligkeit verschiedener Materialpaarungen kann also stark zur Beseitigung von Kundenunzufriedenheit beitragen und besitzt damit ein hohes wirtschaftliches Potential. Schon heute sind deshalb Stick-Slip-Prüfungen von Leder und Kunstleder Bestandteil nahezu aller Spezifikationen der OEMs und müssen entsprechend von den Zulieferern eingehalten werden. Aktuell ist ein Trend hinsichtlich der Ausweitung der Spezifikationen auf andere Reibungspaarungen und realistischere Prüfszenarien (Berücksichtigung von Alterung und Verschleiß oder verschiedenen Klimabedingungen) zu beobachten. Allgemein akzeptierte Prüfnormen sind hier wichtig, um einen Prüfungsdschungel und hohe Kosten für die Zulieferer zu vermeiden.